Kinder sind von Natur aus dazu geschaffen, sich selbst zu bilden.
von Peter Gray
veröffentlicht am 16. Juli 2008
Als Erwachsene haben wir gewisse Verantwortlichkeiten gegenüber unseren Kindern und den Kindern der Welt. Es ist unsere Verantwortung, sichere, gesundheitsfördernde, respektvolle Umgebungen zu erschaffen, in denen Kinder sich entwickeln können. Es ist unsere Verantwortung, sicher zu gehen, dass Kinder geeignete Nahrung, frische Luft, ungiftige Orte zum Spielen und viele Gelegenheiten haben, ungestört mit anderen Menschen aus dem gesamten Altersspektrum zu interagieren. Es ist unsere Verantwortung, Vorbilder menschlichen Anstands zu sein. Aber über eine Sache müssen wir uns keine Sorgen machen: wie man Kinder bildet.
Wir müssen uns keine Sorgen machen um Lehrpläne, Stundenpläne, Kinder zum Lernen zu motivieren, sie zu testen und den ganzen Rest, der unter die Rubrik der Pädagogik fällt. Lasst uns diese Energie stattdessen darauf verwenden, geeignete Umgebungen zu schaffen, in denen Kinder spielen können. Die Bildung der Kinder ist die Verantwortung der Kinder, nicht unsere. Nur sie können das tun. Sie sind dazu gemacht, das zu tun. Unsere Aufgabe in Sachen Bildung ist einfach, einen Schritt zurückzutreten und es geschehen zu lassen. Je mehr wir versuchen, es zu kontrollieren, um so mehr stören wir.
Wenn ich sage, dass Bildung die Verantwortung der Kinder ist und sie von Natur aus dazu geschaffen sind, diese Verantwortung zu tragen, dann erwarte ich nicht, dass Ihr diese Behauptung einfach glaubt. Wir leben in einer Welt, in der diese Behauptung nicht die selbstverständliche Wahrheit ist, die sie einmal war. Wir leben in einer Welt, in der fast alle Kinder und Jugendlichen zur Schule geschickt werden, was in einem immer jüngeren Alter beginnt und in einem immer höheren Alter aufhört, und in der das Wort „Schule“ eine bestimmte Standard-Bedeutung hat. Wir messen Bildung in Form von Punkten bei Tests und Erfolg beim Weiterkommen von einem Level zum nächsten im Schulsystem. Wir denken dann fast automatisch, dass Bildung etwas ist, das in Schulen von Spezialisten getan wird, die in der Kunst und Wissenschaft der Pädagogik ausgebildet sind, die wissen, wie man Kinder durch die Schritte führt, die aus ihrem Grundpotenzial ein gebildetes Produkt machen.
Ich halte es daher für meine Aufgabe, Belege zur Untermauerung meiner Behauptung vorzulegen. Die unmittelbarsten Beweisketten stammen aus Umgebungen, in denen wir Kinder sehen können, die sich selbst bilden, ohne irgendetwas, das wir als Beschulung betrachten. Hier sind drei derartige Umgebungen, auf die ich in den nächsten drei Folgen dieses wöchentlichen Blogs näher eingehen werde.
1. Eine riesige Menge der Bildung eines Kindes findet statt, bevor es in die Schule kommt. Die offensichtlichsten Beweise der Fähigkeit des Kindes zur Selbstbildung, die für jeden, der seine Augen öffnet, zugänglich sind, stammen aus der Beobachtung von Kindern in ihren ersten vier oder fünf Lebensjahren, bevor irgendjemand versucht, ihnen systematisch etwas beizubringen. Denke an all die Dinge, die sie in dieser Zeit lernen! Sie lernen Laufen, Rennen, Springen, Klettern. Sie lernen etwas über die physikalischen Eigenschaften aller Objekte in ihrer Reichweite und wie man auf sie einwirkt. Sie lernen ihre Muttersprache, was mit Sicherheit eine der kognitiv komplexesten Aufgaben ist, die ein Mensch jemals bewältigt. Sie erlernen die grundlegende Psychologie anderer Leute – wie man es anderen recht macht, wie man ihnen auf die Nerven geht, wie man von ihnen bekommt, was man braucht oder möchte. Sie lernen all das nicht durch Unterricht, den irgendjemand anbietet, sondern durch eigenes freies Spielen, durch ihre unstillbare Neugier und ihre natürliche Achtsamkeit für das Verhalten anderer Leute. Wir können sie nicht davon abhalten, all das und noch mehr zu lernen, es sei denn, wir sperren sie alleine in einen Schrank ein.
2. Kinder in Jäger-und-Sammler-Kulturen werden erfolgreiche Erwachsene ohne irgendetwas, das einer Schulbildung gleicht. Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte lebten wir in relativ kleinen, nomadischen, nahrungssuchenden Gruppen. Unsere grundlegende menschliche Natur – dazu gehören Verspieltheit, Neugier und all unsere anderen biologischen Anpassungen an das Lernen – entwickelte sich im Rahmen dieses Lebensstils. Einigen Gruppen von Jägern und Sammlern gelang es, bis in die jüngste Zeit zu überleben, ohne dass ihre Kultur beschädigt wurde. Anthropologen, die solche Gruppen untersucht haben – in Afrika, Asien, Neuseeland, Südamerika und anderswo – fanden eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen ihnen in ihrer Haltung gegenüber Kindern. In all diesen Kulturen wird Kindern und Jugendlichen erlaubt zu spielen und ihren eigenen Interessen zu folgen, im Grunde jeden Tag von früh bis spät und ohne Einmischung der Erwachsenen. Die Überzeugung dieser Leute, getragen von Jahrtausenden an Erfahrung, ist, dass junge Menschen sich durch Spiel und Erkundung selbst lehren und dann, wenn sie dazu bereit sind, ganz natürlich anfangen, das Gelernte zum Nutzen der gesamten Gruppe anzuwenden. Durch ihre eigenen Anstrengungen erwerben Jäger-und-Sammler-Kinder die enorme Palette an Fähigkeiten und Wissen, die sie brauchen, um in ihrer Kultur erfolgreiche Erwachsene zu sein.
3. Kinder in bestimmten „nicht-schulischen Schulen“ in unserer Kultur werden erfolgreiche Erwachsene ohne irgendetwas, das konventioneller Schulbildung ähnelt. Ich war viele Jahre lang Beobachter von Kindern und Jugendlichen an der Sudbury Valley School in Framingham, Massachusetts. Die Schule wurde vor 40 Jahren von Leuten gegründet, deren Vorstellungen von Bildung bemerkenswert denen der Jäger und Sammler ähneln. Die Schule ist für junge Menschen ab vier Jahren bis ins Highschool-Alter, und sie entspricht überhaupt nicht einer typischen Schule. Sie stellt eine demokratische Umgebung dar, in der Kinder wirklich die gleiche Macht wie die Erwachsenen haben und in der Schüler ausschließlich durch ihre eigenen selbstbestimmten Aktivitäten lernen. Die Schule ist im Grunde eine sichere Umgebung, in der junge Menschen spielen, erkunden, Verantwortung übernehmen und unbeschwert mit anderen über das gesamte Altersspektrum hinweg interagieren können. Es gibt keine Tests, keine goldenen Sternchen oder andere derartige Belohnungen, kein Bestehen oder Versagen, keine vorgeschriebenen Kurse oder Studieninhalte, keinen Zwang zum Lernen und kein Überreden der Kinder, keine Erwartungen, dass die Mitarbeiter für das Lernen der Kinder verantwortlich seien. Bislang haben sich mehrere Hundert Leute in dieser Umgebung selbst gebildet. Und nein, sie werden keine Jäger und Sammler. Sie werden Handwerker, Künstler, Köche, Ärzte, Ingenieure, Unternehmer, Anwälte, Musiker, Wissenschaftler, Sozialarbeiter und Software-Entwickler. Man findet sie in der gesamten Bandbreite an Berufen, die wir in unserer Kultur schätzen.
In den nächsten drei Folgen dieser wöchentlichen Beitragsreihe werde ich mich ausführlicher mit jeweils einer dieser drei Quellen befassen, die Belege für die Fähigkeit junger Menschen zur Selbst-Bildung liefern. Bitte reagiert nun unter dem Beitrag mit Euren eigenen Kommentaren, Argumenten und Erfahrungen. Eure Gedanken werden helfen, meine nächste Beiträge zu formen und werden zu dem Dialog beitragen, den wir so sehr brauchen, wenn wir Einfluss darauf nehmen wollen, wie die Welt über Kinder und Lernen denkt. Wenn Ihr denkt, dass sich dieser Dialog lohnt, dann e-mailt diese Folge an andere und verlinkt den Blog auf anderen relevanten Websites, mit denen Ihr zu tun habt.
Mein Sohn ist seit 7 Jahren im normalen Schulsystem in verschiedenen Schulen. Jetzt wird im nächsten Jahr in unserer Nähe eine demokratische Schule eröffnet. Mein Sohn lebt sehr selbstbestimmt. Ist es denkbar, dass er nach dieser langen, frustrierenden Beschulung noch zurückfindet zum eigenen, selbstbestimmten Lernen?
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Ich mische mich mal hier rein. An unserer Freien Schule wird von einer „Entgiftungsphase“ gesprochen, wenn Kinder aus dem Regelschulsystem in eine Freie Schule übergehen. Pi mal Daumen wird mit einem Monat Entgiftung pro Schuljahr gerechnet. Man kann davon ausgehen, dass ein Kind aus einem Regelschulsytem erst einmal nicht mit der neu gewonnenen Freiheit umgehen kann bzw. wird diese in alle Richtungen erst einmal ausgetestet, was ja auch ihr gutes Recht ist, denn es ist ja ihre Freiheit! Schon allein das, seine Freiheit auszutesten, auszureizen, ist ja schon Lernen! Es ist total ok, wenn man als Eltern einfach dann im Vertrauen bleiben kann. Wichtig ist auch als Eltern den eigenen Begriff vom Lernen und von Wissen zu hinterfragen.
Wir haben bei uns übrigens auch einige ältere Schüler, die nach 7, 8 Jahren Regelschulsystem zu uns gekommen sind. Die meisten sind einfach erst einmal erleichtert, dass der Druck raus ist und dass sie zu sich kommen dürfen.
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